Johannes Hartl
Voll Glauben – trotz Zweifeln, Krisen und Kritik
Voll Glauben − mitten im Gegenwind des Zeitgeists − klingt anstrengend. Dementsprechend wohltuend sind die Lockerheit, Gelassenheit und Präzision, mit denen Dr. Johannes Hartl, Gründer des Gebetshauses in Augsburg (DE), den Weg weist.
Johannes Hartl, was ist am wichtigsten, um voll Glauben zu leben?
Am wichtigsten ist für mich das Gebet. Denn wenn ich bete, verbringe ich Zeit mit Jesus, und dadurch pflege ich meine Beziehung zu ihm. Darum geht es für mich in erster Linie beim Glauben: um meine Beziehung zu Jesus. Es gibt keine Beziehung ohne gemeinsame Zeit.
Gibt es für dich neben dieser persönlichen Beziehung zu Jesus noch etwas anderes, das wir beachten müssen, um voll Glauben zu leben?
Ja, das ist der Glaube der Kirche. Als Christ bin ich Teil der Kirche und damit Teil eines Glaubens, der eine viel längere Geschichte hat als mein persönlicher Glaube oder meine persönliche Jesus-Beziehung. Dieser Glaube der Kirche ist geprüft und verlässlich. Im persönlichen Bibelstudium kann es auch einmal passieren, dass eine Stelle missverstanden oder falsch interpretiert wird. Der Glaube der Kirche gibt hier Richtung und Sicherheit.
Ausserdem ist er auch für das Gebet wichtig – denn Beten kann schon einmal langweilig werden, wenn es dabei immer bloss um mich selbst und meine Beziehung zu Jesus geht. Der Glaube der Kirche stellt es in einen grösseren Kontext. Man sieht zum Beispiel, dass man auch noch für andere Menschen oder andere Gemeinden beten kann.
Was ist für Christen heute die grösste Herausforderung, um voll Glauben zu leben?
Die grösste Herausforderung ist, sich nicht zu sehr ablenken und vom Zeitgeist prägen zu lassen. Noch nie hat eine Kultur so viel Einfluss auf das Privatleben genommen wie in unserer Zeit. Die Flut von Medien, mit denen wir täglich konfrontiert werden, ist riesig. Ausserdem ist unsere Gesellschaft total davon überzeugt, dass sie super ohne Gott funktioniert. Sie beruft sich auf die Wissenschaft und übt durch Geld Macht aus.
Und was hilft, diese Herausforderungen des Zeitgeists zu meistern?
Wir Christen haben das Privileg, dass wir unseren Glauben immer wieder von Gott erneuern lassen können. Dazu brauchen wir eben diese intime Beziehung zu Gott, dieses lebendige authentische Gebetsleben, wovon ich zu Beginn gesprochen habe. Und auch der Glaube der Kirche ist wichtig, weil er uns davor bewahren kann, die Bibel dem Zeitgeist der Welt entsprechend auszulegen.
Kannst du das mit der Bibelauslegung noch genauer erklären?
Jede Generation steht in der Gefahr, Dinge in die Bibel hineinzulesen, die den Zeitgeist bestätigen. Doch ich glaube, es geht nicht, dass die Heilige Schrift 2000 Jahre lang gemäss dem Glauben der Kirche verstanden wurde und nun plötzlich Johannes Hartl kommt und sagt: «Nein, nein, die Sache müssen wir ganz anders verstehen!» Da bin ich konservativ. Vor 90 Jahren haben beispielsweise deutsche Theologen gesagt: «Jesus war gar kein Jude, sondern Galiläer. Und die Galiläer waren immer ganz skeptisch gegenüber Juden!» Und schon war der theologische Boden für die Rassenlehre da.
Es gilt also, stets wach und neuen theologischen Lehren gegenüber kritisch zu bleiben und sich zu fragen, ob diese oder jene Lehre wirklich der biblischen Wahrheit entspricht.
Unbedingt. Zwar ist die rationale Auseinandersetzung mit bestimmten Themen oder Lehren im Christentum immer positiv bewertet worden. Auch in der Bibel gibt es viele Beispiele dafür, wie Menschen durch Nachdenken und Prüfen zu einer neuen, klareren Überzeugung gelangt sind: Das ist also sehr erwünscht.
Schwierig werden Kritik oder Zweifel immer dann, wenn eine Person sich weigert, etwas Höheres als sich selbst anzuerkennen. Es geht dann meist nicht mehr um rationale Argumente, sondern um Emotionen und Stolz. Natürlich geht es nicht darum, «blind und dumm» zu glauben, aber darum, ob ich trotz aller Fragen und Zweifel vertrauen kann. Wenn ich nicht vertrauen kann, ist es, als würde ich mein Herz wegschliessen. Ohne Vertrauen ist keine echte Begegnung und Beziehung mit Gott möglich.
Diese Stellen gibt es. Sie zeigen uns, dass Zweifel Teil des christlichen Lebens sind. Glücklicherweise finden wir auch Stellen, die einen Gott beschreiben, der einen sehr liebevollen Umgang mit Zweiflern hat. Das sehen wir zum Beispiel bei Thomas. Jesus lockt ihn sehr zärtlich wieder in seine Nähe, um sein Vertrauen wiederzugewinnen und ihn zu überzeugen.
Gab es in deinem Leben auch Ereignisse, die Zweifel ausgelöst haben?
Ja, ich kenne auch beide Arten von Zweifel. Das rationale Hinterfragen kenne ich aus meiner Teenagerzeit. Da habe ich die Philosophie für mich entdeckt und mich mit allen möglichen Gedankenmodellen auseinandergesetzt – aber erst, nachdem ich mein Vorurteil, dass «ungläubige» Denker mir schaden könnten, überwunden habe. Die zweite Art des Zweifels habe ich kennengelernt, als eines unserer Kinder gestorben ist. Das war sehr tragisch. Diese Art von Zweifel kann nicht immer aktiv überwunden werden. Das muss man mit Gott im Gebet aushalten.
Und wie machst du das, solche Schmerzen im Gebet aushalten?
Die erste Voraussetzung für Gebet ist: Gebet findet immer im Raum der Wahrheit statt. Ich darf vor Gott genau so sein, wie ich bin. Vor ihm muss ich mich nicht verstellen. Er hält das aus. Und genau so, wie ich eben bin, begegne ich dann im Gebet dem Ewigen, und er wird auf mich und auf das, was mich beschäftigt, eingehen. Im Gebet kann es verwandelt werden.
Wieweit ist in Zeiten des Zweifels und der Krisen das Gespräch mit anderen Christen eine Hilfe?
Das Gespräch finde ich schon auch wichtig, aber es wird in unserer Kultur manchmal überbetont. Die christliche Gemeinschaft sollte nie ein Ersatz für die eigene Jesus-Beziehung sein. Ich bin der Meinung, dass es in manchen Gemeinden zu viel Abhängigkeit unter Christen und zu wenig Abhängigkeit von Gott gibt. So werden wir geistlich nicht mündig werden.
Du betonst immer wieder, wie wichtig unser persönlich erzähltes Glaubenszeugnis ist. Inwiefern dürfen Christen auch damit rechnen, dass Gottes Gegenwart fast «automatisch» von ihnen ausstrahlt und sie so ein Zeugnis sind?
Es kommt schon vor, dass Christen angesprochen werden, weil man ihnen die Gegenwart Gottes einfach anmerkt. Aber das ist keine Regel oder etwas, das ständig passieren muss. Dennoch denke ich, dass wir noch bewusster in der Präsenz Gottes leben könnten, denn die Präsenz Gottes strahlt wirklich immer nach aussen.
Wie können wir denn die Gegenwart Gottes in unserem Leben noch stärker kultivieren?
Einerseits durch das persönliche Gebet, andererseits aber auch durch den Glauben und im Wissen, dass es diese Dimension gibt. Das lernen wir beispielsweise aus der Geschichte. Da sehen wir, dass es immer wieder Erweckung gegeben hat. Wenn wir glauben, dass etwas möglich ist, dann sollen wir es auch von Gott erwarten. Wenn es dann nicht passiert, können wir mit Jesus im Gebet darüber reden. So wie die Jünger, die den Dämon nicht austreiben konnten und dann zu Jesus gingen und fragten: «Warum klappt’s nicht?» (Matthäusevangelium, Kapitel 17, Vers 19)
Bei einem Leben voll Glauben geht es also um mehr, als nur ganz allgemein an Jesus zu glauben?
Ja, es geht für mich zum Beispiel auch darum, zu vertrauen und zu glauben, dass Gott sich danach sehnt zu wohnen: an Orten, in der Kirche, in Häusern, in einzelnen Menschen. Jede Gemeinde ist dazu berufen, ein Ort zu sein, wo Gott wohnt, ein «Beth-El», ein Haus Gottes. Es macht einen Unterschied, ob ich denke «Ja, ich glaube an Gott, und er ist irgendwo da draussen» oder ob ich denke und darum bete «Was kann ich tun, um die Gegenwart Gottes zu empfangen, dass er bei mir oder in unserer Gemeinde wohnen kann?».
Dieses Interview ist dem Magazin Amen entnommen und wurde von Livenet gekürzt.
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Autor: Viviane Herzog
Quelle: Magazin Amen